KRITIK ZU WIR LIEBTEN NICHT ALLE
TAZ, Katja Kollmann, 05.12.2022, Kritik zu WIR LIEBTEN NICHT ALLE
”Das Publikum wird von Anfang an hineingeworfen in die Intimität dieser Familie. Man kommt sich aber nie wie ein Voyeur vor, denn Regisseurin Carolin Millner setzt konsequent auf eine Darstellung, die sich nicht in die Figuren einfühlt. Außerdem rotieren die Schauspielerinnen Lisa Heinrici, Katharina Merschel undMariann Yar im Spiel.
Es findet eine Art fliegender Wechsel bei der Darstellung der verschiedenen weiblichen und männlichen Familienmitglieder statt. Dadurch bekommt die knapp zweistündige Inszenierung Dynamik, ist aber gleichzeitig sehr fokussiert, weil sie konsequent auf Text und Schauspielkunst setzt. Das funktioniert, weil Millner die Schauspielerinnen durch wenige Gesten intime Räume schaffen lässt – im produktiven Gegensatz zum Bühnenbild, das mit dem (fast) einzigen Gestaltungselement Raumteiler bewusst darauf verzichtet. Und das funktioniert vor allem wegen Carolin Millners Bühnentext. Der beleuchtet kurz und intensiv ganz konkrete Lebenssituationen und lässt dann die einzelnen Wolfs zu Wortkommen. Millner erklärt nicht, sie beurteilt nicht, sie wirft klug ihre Schlaglichter aus und lässt vor allem die beiden Frauen zu Wort kommen, die das Rückgrat dieser Familie bilden über Jahrzehnte hinweg. Durch diese weiblichen Stimmen gelingt das intime Porträt einer Familie, in der sich alle als KommunistInnen verstanden haben und in der die Männer, besonders Markus Wolf, über Macht und Gestaltungsspielraum verfügten.”
kritik zu rot oder tot. folge 4: wenn es die idee nicht schon gäbe, hätte ich sie gehabt (2019)
FAZ, David Rittershaus, 19. Juli 2019, Kritik zu ROT ODER TOT, FOLGE 4: Wenn es die Idee nicht schon gäbe, hätte ich sie gehabt.
”Wie versetzt man ein Theaterpublikum unmittelbar in eine andere Zeit, etwa in die achtziger Jahre der Deutschen Demokratischen Republik?
Man kann es beispielsweise direkt als Versammlung adressieren, als FDJ-Gemeinschaft, und es ernsthaft auffordern Vorschläge einzubringen. Es geht darum, wie einer jungen Genossin geholfen werden kann, bei der es mit der Ausbildung nicht gut läuft. Das ist noch eine unverfängliche und zeitlose Frage. Doch was, wenn man Entscheidungen zu den essentiellen Fragen dieser Zeit treffen soll: Bleiben oder gehen? Die DDR reformieren oder die Mauer einreißen und sich der Bundesrepublik anschließen? Die lassen sich nicht immer ganz so leicht entscheiden, wie es scheint. [...] Die Konversationen werden selten in direkter Dialogform dargeboten, sondern fast immer über das Publikum geführt, und obwohl der Text in großen Teilen persönliche Positionen vorbringt und sich nah an eine Alltagssprache schmiegt, behält er doch eine hohe literarische Qualität. Millners Inszenierung verzichtet auf unnötige Dekoration und stellt den Diskurs in den Mittelpunkt [...] Millners Inszenierung zeigt ein vorsichtiges und unsicheres Herantasten an den Umsturz. Darin ist weniger idealistischer Freiheitskampf zu finden, sondern mehr ein Ringen um politische Reformen. Vor allem geht es aber um den Erhalt und das Erlangen eines privaten Glücks. Für die einen trotz des politischen Umbruchs, für die anderen durch ihn.”
kritk zu rot oder tot. folge 3: An kapitalismus musst du nicht glauben. er ist einfach da. (2018)
FAZ, Matthias Bischoff, 5. Juli 2018, Kritik zu ROT ODER TOT, FOLGE 3: AN KAPITALISMUS MUSST DU NICHT GLAUBEN. ER IST EINFACH DA.
“Das ist einmal eine wirklich persönliche Eröffnung eines Theaterabends: Unvermittelt setzt der eine oder andere der Akteure sich neben die draußen vor der Naxos-Halle entspannt in der lauen Sommernacht wartenden Zuschauer, stellt ihnen eine Frage, verwickelt sie in ein Gespräch, bittet dann freundlich hinein. Dort wird schon heftig über die Frage diskutiert, ob eine junge Frau Vorarbeiterin in ihrem volkseigenen Betrieb werden soll und die meisten im Publikum raten ab. [...] So gleitet man unversehens mitten hinein in die Probleme des real existierenden Sozialismus, in der DDR, den das Künstlerkollektiv ELEGANZAUSREFLEX unter der Überschrift ROT ODER TOT inszeniert hat.
Unter der Regie von Carolin Millner verschwindet der Unterschied zwischen den erkennbaren Schauspielern und den spontanen Wortbeiträgen aus dem Publikum. Denn hier gibt es kein Draußen und Drinnen, alle sitzen im selben Staatsboot und ringen um die existenziellen Fragen des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. [...] Es wird nicht auf den untergegangenen Staat eingedroschen, sondern gleichsam aus ihm heraus gefragt, wie es zu seinem Ende kam und ob nicht auch alles ganz anders hätte kommen können.”
kritk zu rot oder tot. Folge 2: der weltfrieden hat nichts mit dir zu tun. (2017)
Megalomania Magazin Frankfurt am Main, Gina Stöcklein, November 2017, Kritik zu rot oder tot, Folge 2: Der Weltfrieden hat nichts mit Dir zu tun.
"Die Schauspieler und das Bühnenbild verzichten auf großes Tamtam. Mit der direkten Rede in das Publikum hinein und dem stetigen direkten Blick, fühlt sich der Zuschauer einbezogen. Durch die interaktive Rolle des Publikums bleibt die ganze Zeit ein bisschen Irritation, Spannung und Neugierde im Raum verhaftet. Gefesselt folgt man so dem von uns selbst entschiedenen Ablauf... Die Inszenierung war mitreißend. Einerseits durch die familiäre Geschichte emotional berührend und andererseits gerade wegen der aktiven Mitwirkung unsererseits an der Narration des Abends. Das Stück hinterließ einen bleibenden Eindruck und viel Raum für Diskussion und Interpretation. Das Publikum war mitgenommen von der Aufführung und dankte es mit gebührendem Applaus, welcher definitiv von Begeisterung sprach. Als grandiose Darsteller entpuppten sich an diesem Abend Niolai Gonther, Andreas Jahncke und Magdalena Wabitsch."
kritk zu muttersprache (2016) מאַמע-לאָשן
FAZ, Matthias Bischoff, 20.06.2016, Kritik zu Muttersprache מאַמע-לאָשן
"Lediglich weiße Vorhänge bilden das Bühnenquadrat im studioNAXOS. Dahinter kommt ein weiterer Vorhang zum Vorschein und als nach knapp 80 Minuten der Raum kahl ist, gibt es nichts weiter zu sagen, versiegen die Sprechakte, verschwinden die Figuren. Sophie Pfenningstorf, Annemarie Falkenhain und Gabriele Nickolmann sprechen zunächst ohne genaue Rollenzuordnung als Großmutter Lin, Mutter Clara und Enkelin Rahel. Die drei Frauen sprechen Brieftexte, unter anderen an einen nie anwesenden Sohn beziehungsweise Bruder, sie kämpfen miteinander, sie ringen um die Vorherrschaft. Jeweils zwischen Mutter und Tochter ist die Hauptlinie dieser Rededuelle, die bissig, scharfzüngig, voller böser Pointen sind und naturgemäß an kein rechtes Ende kommen. Millners Inszenierung bleibt dicht an den Figuren dran, sie lässt sie mitunter körperlich die gleichen Bewegungen vollführen und verlässt sich dabei ganz auf den Text. Als kreisender Diskurs über jüdische Identität, über jüdisches Leben nach 1945 in der DDR, vor allem als Psychogramm der konfliktträchtigen Mutter-Tochter-Beziehung stellt der Abend aber vor allem Fragen und lässt die Figuren und die Zuschauer damit absichtsvoll allein."
kritk zu truthahn und knochen und essen und es gefiel uns (2015)
Hamburger Abendblatt und die Welt, Kritik zu Truthahn und Knochen und Essen und es gefiel uns
"Befremdlich beginnt es. Die ersten 15 Minuten wird der schwere Bühnenvorhang nur kurz unten gelüftet und gibt ein Paar Füße frei. Der folgende Vortrag ähnelt einem Hörspiel. Später kommt es dann doch zu Interaktion. Die Texte Steins folgen der Theorie des Bewusstseinsstroms und sind erst einmal unverständlich. Bald erhellt sich, es geht irgendwie um ein Thanksgiving-Essen, und etwas läuft schief. Teller fallen klirrend auf den Boden. Der Text könnte ebensogut zu einem Psychothriller gehören wie zu einer Liebesgeschichte. Was genau, halten die Darstellerinnen erfrischend offen. Ein charmantes kleines Sprachkunstvergnügen."
Hamburg Tourismus Blog, Kritik zu Truthahn und Knochen und Essen und es gefiel uns
"In der Vorankündigung steht, dass der zugrunde liegende Text der amerikanischen Autorin Getrude Stein nicht erklärt werden müsse und er von ihnen so gespielt werde, wie es ihnen gefällt. Und mir gefällt es! Die Inszenierung von Carolin Millner schafft es, sich unaufdringlich aber eindringlich dem Sprachwerk zu nähern und dessen Eigenschaften zu übertragen. Die Darstellerinnen beginnen ihr Spiel mit einem Fuß-Theater – der Vorhang verdeckt den Rest ihrer Körper. Zärtlich und neckisch und dann auf einmal bedrohlich kommunizieren die Individuen mittels ihrer Füße. Auf der Bühne entsteht ein spannendes, sensibles Schauspiel, das einen sehr ästhetischen Zugang zu Steins Stück bietet."
* Jammer und Rührung ist ein Programm von studioNAXOS. Die Dramaturginnen Jeanne J. Eschert und Philipp Scholtysik befragen Personen aus dem Publikum dazu, was sie mit einer Veranstaltung erlebt haben. Sie stellen Rührungen, Gemütsregungen oder emotionalen Reaktionen in den Mittelpunkt. Welche Sprache haben wir für individuelle Erlebnisse im Theater? Wie können wir uns verstehen, auch ohne uns zu kennen oder eine gemeinsame Sprache zu haben? Die folgenden Interviews halten die subjektiven Erlebnisse Einzelner als Spuren der Aufführungen fest. So entsteht ein fortlaufender Dialog über das Programm von studioNAXOS.