WIR LIEBTEN NICHT ALLE (UA)

die Geschichte der Jahrhundertfamilie Wolf

Ein Theaterstück über vehemente Frauen, ideologische Debatten und den Kosmos einer der einflussreichsten Familien der DDR. Familie Wolf war geprägt von Überzeugungstäter*innen im Widerstand gegen den Faschismus, im Glauben an den Sozialismus und ringend um eine Haltung zur DDR. Während die Männer Filme machten, Menschen verarzteten, Bücher schrieben oder die Staatssicherheit mit aufbauten, waren die Frauen Republikflüchtlinge, Spioninnen, Observierte, Verfolgte, Kommunistinnen, Kämpferinnen und Komplizinnen. WIR LIEBTEN NICHT ALLE taucht ins Private ein, um Politisches zu begreifen.

Die Familiensaga: Emmi Wolf, deren Vater im KZ ermordet wurde, ist überzeugte Antifaschistin. An ihrer Seite avanciert Ehemann Markus Wolf zum Leiter der DDR-Auslandsspionage. Seine zweite Ehefrau Christa ist erst Mitarbeiterin, dann Opfer der Stasi. Als er Mitte der 80er Jahre seine spätere dritte Ehefrau Andrea Stingl kennenlernt, die wegen Republikflucht einsaß, vollzieht er einen Wandel und sucht die Nähe zu Oppositionellen. Wie ehrlich ist diese Entwicklung? Mit im Familienbild stehen auch Bruder und Filmemacher Konrad Wolf und die Eltern: Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf sowie Else Wolf, die jahrzehntelang die Familie zusammenhält. Auf wessen Kosten?

teaser

Anlässlich des 100. Geburtstags von Markus Wolf im kommenden Jahr fragen Eleganz aus Reflex nach persönlichen Motiven, sich für oder gegen eine Sache zu stellen, und nach den Konsequenzen dieser Entscheidungen auf das Leben anderer und den Lauf der Geschichte. WIR LIEBTEN NICHT ALLE versucht in Verkehrung des berühmten Mielke Zitats eine ehrliche Auseinandersetzung mit der individuellen Verantwortung gegenüber dem politischen System. Der Theaterabend leuchtet in das Dickicht von (Falsch-) Informationen, gelenkten Mythen und mündlich überlieferten Narrativen und zeigt auf, wie es gewesen sein könnte.

TAZ, Katja Kollmann, 05.12.2022, Kritik zu WIR LIEBTEN NICHT ALLE
Das Publikum wird von Anfang an hineingeworfen in die Intimität dieser Familie. Man kommt sich aber nie wie ein Voyeur vor, denn Regisseurin Carolin Millner setzt konsequent auf eine Darstellung, die sich nicht in die Figuren einfühlt. Außerdem rotieren die Schauspielerinnen Lisa Heinrici, Katharina Merschel undMariann Yar im Spiel.
Es findet eine Art fliegender Wechsel bei der Darstellung der verschiedenen weiblichen und männlichen Familienmitglieder statt. Dadurch bekommt die knapp zweistündige Inszenierung Dynamik, ist aber gleichzeitig sehr fokussiert, weil sie konsequent auf Text und Schauspielkunst setzt. Das funktioniert, weil Millner die Schauspielerinnen durch wenige Gesten intime Räume schaffen lässt – im produktiven Gegensatz zum Bühnenbild, das mit dem (fast) einzigen Gestaltungselement Raumteiler bewusst darauf verzichtet. Und das funktioniert vor allem wegen Caroline Millners Bühnentext. Der beleuchtet kurz und intensiv ganz konkrete Lebenssituationen und lässt dann die einzelnen Wolfs zu Wortkommen. Millner erklärt nicht, sie beurteilt nicht, sie wirft klug ihre Schlaglichter aus und lässt vor allem die beiden Frauen zu Wort kommen, die das Rückgrat dieser Familie bilden über Jahrzehnte hinweg. Durch diese weiblichen Stimmen gelingt das intime Porträt einer Familie, in der sich alle als KommunistInnen verstanden haben und in der die Männer, besonders Markus Wolf, über Macht und Gestaltungsspielraum verfügten.”

 

Inszenierungsmitschnitt

Der Film ist mit einem Passwort versehen. Wer Interesse daran hat, möge uns anschreiben. Wir schicken dann das Passwort gerne zu. Mailadresse steht weiter unten.

 

Mitwirkende
Text, Regie: Carolin Millner | Bühne, Kostüm, Licht: Maylin Habig & Nils Wildegans | Dramaturgie: Lisa Schettel | Video/Film: Arda Funda |
Spieler*innen: Mariann Yar, Lisa Heinrici, Katharina Merschel| Produktionsleitung: Jasna Witkoski |Fotos: Robert Schittko, André Simonow

Mit Unterstützung von Christian Ostermann / der Friedrich Wolf Gesellschaft / dem Archiv der Akademie der Künste / Dr. Jens Gieseke (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung) / dem Stasimuseum Berlin in der Zentrale des MfS / dem Stasi-Unterlagen- Archiv / dem Bundesarchiv / dem Deutsches Rundfunkarchiv /Robert Conrad und Leon Kahane

 

portfolio

Jammer und Rührung*

1: Ich habe mir gerade das Theaterstück angesehen. Es hat ungefähr zwei Stunden gedauert. Ich glaube der erste Eindruck war, dass ich unglaublich viel gelernt habe. Ich habe eine Familiengeschichte gesehen, die mir so bis jetzt nicht bekannt war, innerhalb verschiedener Daten und Ereignisse, die mir bekannt waren: Das „Dritte Reich“, die Sowjetunion, die Verfolgung in beiden Staaten, das habe ich natürlich wiedererkannt. Mein nachhaltigster Eindruck war aber, dass ich wahnsinnig viel gelernt habe durch diesen Einblick, über diese eine Familie in der Zeit. Und darüber, wie gerade später in der DDR, die, die eigentlich an das Projekt geglaubt haben, mit Zweifeln umgegangen sind, diese geäußert haben oder nicht geäußert haben. Das erste Wort das mir einfällt ist: nachdenklich. Falls das als Gefühl zählt. Nachdenken darüber, wie man damit umgeht, wie man es schafft, die eigenen Ideale zu verfolgen. Und wie man es schafft, in einer Gesellschaft diese zu verfolgen und die eigene Haltung zu halten und trotzdem immer wieder zu hinterfragen. Das habe ich in den Figuren auf jeden Fall gesehen, dass die damit gerungen haben. Das wäre so ein bisschen die Frage: Wie hätte ich mich in solch einer Situation verhalten? Wenn ich an so eine Idee wie einen sozialistischen Staat geglaubt hätte? Man hat eben gerade auch, es musste nicht immer so super konkret benannt werden, aber man hat eben auch Zweifel und Zwischentöne rausgehört. Wie gehe ich damit um, mit der Person mit der ich zusammen bin, mit der ich mein Leben verbringe, oder meine Geschwister, die eine andere Haltung haben, oder die gleiche haben, aber anders in der Situation in dem Land, in dem ich wohne, damit umgehen? Das hat die Figuren wahrscheinlich besonders authentisch gemacht. Und dann konnte man selbst daran gut anknüpfen und nicht nur die nach außen hin repräsentierte Funktion sehen. Also ich war überrascht, dass ich gelacht habe. Es war an Stellen echt witzig. Und gar nicht aus irgendeinem tieferen Sinn. Es war einfach, dass mich das total zum Lachen gebracht hat.
Es war irgendwie kein Stück, bei dem ich erwartet habe zu lachen, und das ist dann fast noch schöner.


2: Ich habe lange nicht mehr so intensiv versucht, bei etwas am Ball zu bleiben. Auf jeden Fall ein intensives und temporeiches Stück. Ich hatte das Gefühl das war kein Stück zum Zurücklehnen, sondern eher für so ein mitarbeitendes Gefühl. Meine Erwartung war Spaß. Ich habe schon einige Stücke von der Regisseurin gesehen und bin jedes Mal gespannt, wie es diesmal wird. Ich habe wenig gelesen, aber wusste, dass es um eine DDR-Familie geht, aber ich hatte nicht so viele Erwartungen.
Es gab schon mal so ein DDR-Stück. Aber ich habe den Eindruck, es wird immer besser und professioneller. Davor war es das auch, aber jetzt war es wieder extrem gut geschrieben und es hat mir gut gefallen. Es war schon irgendwie so typisch.

*Jeanne J. Eschert und Philipp Scholtysik befragen Personen aus dem Publikum dazu, was sie mit einer Veranstaltung erlebt haben. Sie stellen Rührungen, Gemütsregungen oder emotionalen Reaktionen in den Mittelpunkt. Welche Sprache haben wir für individuelle Erlebnisse im Theater? Wie können wir uns verstehen, auch ohne uns zu kennen oder eine gemeinsame Sprache zu haben? Die folgenden Interviews halten die subjektiven Erlebnisse Einzelner als Spuren der Aufführungen fest. So entsteht ein fortlaufender Dialog über das Programm von studioNAXOS.

Die Produktion entstand in Koproduktion mit TD Berlin und studioNAXOS Frankfurt am Main. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds, das Land Hessen und dem Kulturamt Frankfurt am Main. Institutionell gefördert durch das Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main. Ein Gastspiel des Netzwerk Freier Theater (NFT).