ROT ODER TOT. FOLGE 5: Wendestress - Too much past inside my present. (UA)

In vier Folgen haben ELEGANZ AUS REFLEX den Protagonist*innen von ROT ODER TOT beim Aufbau des Sozialismus zugeschaut, mit ihnen über Elitenbildung, Mauerbau und sozialistische Architektur gestritten, die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Ausbürgerung Wolf Biermanns erlebt und schließlich über Fall oder Fortbestehen der Mauer abgestimmt.
Mit ROT ODER TOT hat die Künstlerinnengruppe ELEGANZ AUS REFLEX ein immersives Serienformat zu politischer Partizipation und ein Gedankenexperiment zur (Re-)Konstruktion von Geschichtsverläufen entwickelt, welches Zuschauer*innen dazu einlädt, Wendepunkte von DDR-Geschichte neu zu entscheiden und zu diskutieren. Wie können wir uns aus vorgefertigten Erzählungen lösen, um einen differenzierten Blick auf die Geschichte des realexistierenden Sozialismus zu gewinnen? Und was kann uns das Leben in diesem untergegangenen Land heute noch über die Möglichkeiten einer alternativen Gesellschaftsform erzählen?
Die 90er: Ging es bisher darum, das sozialistische Experiment DDR auf seine unverwirklichten Möglichkeiten hin auszuloten, so bleibt nach seinem Scheitern nur noch eine Wegbeschreibung: Der Weg der Abwicklung der DDR. Entscheidungen sind nicht mehr möglich.
Für utopische Versuche und zögernde Herzen lassen die sich überschlagende Ereignisse auf dem Weg zur deutschen Einheit keinen Platz mehr. Die Zeit ist knapp geworden und das Klima auf Deck rau. Jetzt muss Jede*r den Absprung schaffen oder zusammen mit dem Boot untergehen.

FAZ, David Rittershaus, Dezember 2019, Kritik zu ROT ODER TOT, FOLGE 5: Wendestress - Too much past inside my present.
“Wenn ein Ereignis der Dimension des Mauerfalls eintritt, dann kommt es eigentlich zu einer Unterbrechung im Lauf der Dinge, die für einen Moment viele potentielle Wege eröffnet. Diese Chancen haben vielleicht auch einige gesehen, die vor ziemlich genau 30 Jahren, am Dezember 1989, an dem Runden Tisch von DDR-Regierung, Kirchen und Opposition teilnahmen, um die Wende zu gestalten. Seit 2017 seziert die Frankfurter Regisseurin Carolin Millner mit ihrer Gruppe "ELEGANZ AUS REFLEX" im studioNAXOS mit der Reihe "ROT ODER TOT" die DDR-Geschichte aus der Sicht von Republikbürgerinnen und -bürgern. Dabei richtet sie den Blick nicht auf die großen, dramatischen Momente, sondern es interessiert sie das persönliche Ringen mit dem Realsozialismus. Immer wieder ist es ihr dabei gelungen, das Publikum unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu lassen. In der fünften und letzten Folge, die nun im studioNAXOS uraufgeführt wurde, führt Millner das Publikum in die Zeit der Wende, zu jenem Moment, in dem so viel möglich schien. Wobei das Wort "Wende", so vernimmt man an einer Stelle, keine gute Bezeichnung sei. Wiedervereinigung? Besser: Angliederung. Denn dass die Chancen, die sich da 1989 auftaten, gründlich vertan wurden, das bringt Millners Text, wie immer elegant collagiert aus Literatur, Filmen und Dokumentationen, deutlich zum Ausdruck. Der Westen habe nicht danach gefragt, wie sich die DDR-Bürger*innen die Zukunft vorstellten, sei einfach davon ausgegangen, dass man sich das BRD-Modell wünsche. Aus dem "Es war nicht alles schlecht", das in den vorigen Folgen von "ROT ODER TOT" oft mitschwang, wird in Bezug auf die Nachwendezeit ein "Es war nicht alles gut". Auch hier wird wieder viel gerungen: mit der Frage, was man vom Sozialismus noch retten kann; mit dem alles überrollenden Kapitalismus; mit dem Tempo der Veränderung, aber auch mit der eigenen Vergangenheit als Stasi-Spitzel. Wie bewirbt man sich auf eine Arbeitsstelle? Wie wird man eine gute Verkäuferin? Mit viel Witz führen die beiden Darstellerinnen Sarah Gailer und Johanna Millner die Gewöhnung an die neue Lebenswelt vor. Millner setzt auf viel Vertrautes und Wiedererkennbares. Zu Recht. In fünf Folgen "ROT ODER TOT" haben Millner und ihr Team gezeigt, wie man mit einfachen Mitteln großes Theater machen kann.”

FREITAG, Alexander Jürgs, 11. Dezember 2019, Kritik zu ROT ODER TOT. FOLGE 5: Wendestress - Too much past inside my present.
”Nur ein paar Augenblicke dauerte es, da war aus dem weiten Möglichkeitsraum des Umbruchs, der „friedlichen Revolution“, der Weg in den Beitritt geworden.
Gailer und Miller leihen in diesem Abend ihre Stimmen ganz unterschiedlichen Charakteren: dem Stasi-Mitarbeiter, der sich daran klammert, auf der richtigen Seite gestanden zu haben, den Bürgerbewegten, die der Beschleunigung der Ereignisse nichts entgegensetzen können und zu Randfiguren werden, dem Skinhead, der Halt in den nun selbstbewusst auftretenden rechten Netzwerken sucht, der Frau, die mit der Bahn in den Westen aufbricht, die daneben sitzt, während ein Mann mit schwäbischem Dialekt sich über „die aus dem Osten“ das Maul zerreißt. „Ob man mir den Ossi noch ansieht?“, fragt sie sich.
Die DDR wird in dieser Inszenierung zu einem windumtosten Kahn, der dem „Wendemanöver“ nicht mehr entkommen kann. Pantomimisch vollführen die Schauspielerinnen die Handgriffe der Segelnden, die Theaterstühle werden zu ihrer Nussschale – es ist ein einfaches, aber eindringliches Bild. Und mehr und mehr wird klar, dass der Lauf der Geschichte nicht zu bremsen ist. Die Kostüme aus weißem Tuch werden durch glitzernde Scheußlichkeiten aus Kunstseide ersetzt, Arbeitsplätze gehen verloren, Bewerbungs-Coachings werden absolviert, die Angst vor den neuen Nazis macht sich breit.
Die Bilanz fällt nach knappen eineinhalb Stunden bitter aus: Aufgestanden und erhoben haben sich die Menschen, gelandet sind sie bei Aldi.”

inszenierungsmitschnitt

Mitschnitt ROT ODER TOT Folge 5
Der Film ist mit einem Passwort versehen. Wer Interesse daran hat, möge uns anschreiben. Wir schicken dann das Passwort gerne zu. Mailadresse steht weiter unten.

Portfolio

Mitwirkende
Text, Regie: Carolin Millner | Bühne: Morgenstern & Wildegans | Dramaturgie: Theresa Selter | konzeptionelle Beratung: Fee Römer | Kostüm: Maylin Habig | Regieassistenz: Ivana Mitric |
Spieler*innen: Sarah Gailer | Johanna Miller | Fotos: Thersa Selter | Marcus Morgenstern

Die Produktion entstand in Kooperation mit studioNAXOS. Ermöglicht wurde das Projekt durch das Kulturamt Frankfurt am Main, dem Ministerium für Kunst und Wissenschaft des Landes Hessen, den Kulturfonds RheinMain sowie flausen-young artists in residence.

einladung

Die Produktion wurde zum EINS ZU EINS Festival nach Berlin (2020) und zum flausenFestival#3 nach Bielefeld (2021) eingeladen